21.04.2002 Hamburg-Marathon - Rolf Peters
Jetzt wollen natürlich alle wissen, wie's gewesen ist beim ersten Mal. Ja Gott - zwicken tut's.
Oberflächlich betrachtet mag das an diesen Hosen liegen. Obwohl ich die besten Vorsätze gehabt habe, das Thema nicht mehr zu bemühen. Blicken wir also in das Innere.
Erich Fromm definiert Masochismus als die passive Form der symbiotischen Vereinigung. Am Sonntag hätte mich dieser Einwurf wertvolle Sekunden gekostet, um ein Haar gar ein ein blutiges Knie, hier am Schreibtisch wahre ich die Fassung. Ich muß von meinem ersten Marathon erzählen.
Komm mit uns, sagten sie, fahr nach Hamburg, sagten sie, laufe Marathon. Na gut, sagte ich. Inzwischen ist der Winter rum, trainiert habe ich meistens allein und Bittermark geschwänzt, der Eigenbrödler ist wieder voll durchgebrochen. Ich brauche das Lonesome-Cowboy-Feeling, diese Aura des Tragischen, der Arme. Aber einmal geknüpft sind die Fäden nicht mehr gerissen, man sah sich in Hamm, man schlug mich in Paderborn und zwar Gerd aus der M60. Aber es sollte ja noch schlimmer kommen.
Am Samstagmorgen um 6 geht es los. Am Bahnhof nur Verrückte: Lauter gestrandete Nachtschwalben und die Bittermärker, die sich dabei auch noch photographieren müssen. Rein in den Zug und erstmal ordentlich nervös sein. Jetzt ist Marathon, sage ich mir, jetzt bis morgen abend, reiß dich zusammen.
In Hamburg angekommen schält sich die Karawane aus der Bahnhofshalle. Überall gute Laune, nur einer blickt verkniffen. Das Hotel sieht aus wie eine Zielscheibe für gescheiterte Spekulanten mit Pilotenschein. Im Zimmer versuche ich es mir so heimisch wie möglich zu machen. Was fehlt, ist diese übersteuerte Aquarienpumpe meines Nachbarn. Der Zeitgeist nennt das Techno, simuliert Entzücken und wippt rhythmisch mit, bis man ihm hoffentlich bald was anderes vorsetzt, aber werde ich schlafen können?
Ich wohne mit Klaus-Peter, das haut mich um, der Leitwolf mit mir in einem Zimmer. Der Leitwolf blinzelt skeptisch über seine Brille, wie ich erstmal meine gigantische Reisetasche auf dem Boden ausschütte, um darin mein Lauf-T-Shirt zu vermissen. Dafür habe ich einen Kocher dabei - nackt ja, aber sonst soll es an nichts mangeln.
Eine neues T-Shirt ist in der nahe gelegenen Messe schnell erstanden, schwieriger wird es, noch einen Müllsack zum Warmlaufen aufzutreiben. Der Hostess an der Hotelinfo trage ich an, ich habe da einen sehr außergewöhnlichen Wunsch und sage nochmal einer, wir Männer denken nur an das eine. Diesmal denkt sie es nämlich selber und ist ehrlich erleichtert, daß es bei mir auch ein Müllsack tut. Nur sie hat keinen, dafür aber Gerd in seinem Wohnmobil, gewissermaßen als Trost für Paderborn.
Schießlich wird es abend, Zeit für eine letzte Nudel. Die Pizzeria schwappt vor Marathonis über, starte ich morgen immerhin in Block C, erwische ich hier einen Tisch in Block D, etwa 19000 bekommen ihr Essen vor mir. Die Herren und Damen Sportler kokettieren mit Alkohol, selbst Ralf Ermler trinkt ein Weizen, vielleicht wurde ihm das zum Verhängnis. Ausgerechnet ich trinke Spezi. Schißhengst. Neben mir sitzt Beate und lacht, na die muß diesmal auch nicht laufen.
Abends auf dem Bett endlich Entspannung: Aktuelles Sportstudio, Borussia’s Sturm im Formationsflug, eine echte Doppelschwalbe findet auch der bebrillte Leitwolf, da gehen wir morgen ehrlicher zu Werke, aber das 2:1 sorgt für einen geruhsamen Schlaf.
Am nächsten Morgen Frühstück nach Lehrbuch, was bin ich ein Streber. Wie ein orangener Ball klettert die Sonne aus dem Gebüsch, sie kennt ihren Job für heute. Dann ist es soweit. Die Nervosität ist wie weggeblasen. Vor mir starten die Skater, The Final Countdown donnert aus den Boxen, imposant schieben sich drei schnaubende Hubschrauber über unsere Köpfe. Jetzt läuft mir aber doch ein Schauer über den Rücken. Ich reiße mir den dämlichen Sack vom Leib, so dann wollen wir doch mal sehen. Mein rechter Nachbar startet in vollem Ornat, der wird sich wundern. Schließlich setzt sich der riesige Lindwurm in Bewegung.
Was dann kommt, ist ein langer Traum - dreieinhalb Stunden lang. Zen in der Kunst des Marathonlaufens: Nicht ich laufe, es läuft mich. Zeit gibt es keine mehr, außer auf der Uhr. Die zeigt nach 3 Kilometern eine digitale 17, da nehmen wir besser den Bürgersteig. Dort geht es zu wie beim Rosenmontagszug. Irgendwann kommt ein langer Tunnel, wir im Morgennebel rein, drinnen eine überschäumende Laola, wieder raus und es ward Licht. Jetzt tickt auch die Sonne aus.
Durst kommt auf. Bei mir nichts ungewöhnliches, diesmal habe ich aber nur Wasser dabei. So Schorle, mit allem drin, was man braucht, um das Leiden zu verlängern. Unterwegs etliche Bittermärker, ich komme immer von hinten, das ist nicht Heimtücke, sondern Anfängerschicksal. Vorsätze ade, ich fliege und trotzdem nach Plan. Die Uhr überrascht mich immer wieder: Bei Kilometer 12 habe ich die 2 Minuten wieder raus, bis 22 auch eine Minute Polster. Das will ich bis 32 halten, dann meinetwegen auf 5:30 abkacken, macht 3:35, Michael's 3:36 muß ich knacken. Soviel zur Taktik. Aber die große Frage für jeden Debütanten ist ja: Was bringen die letzten 10 Kilometer? Denn das sind die eigentlich marathonösen.
Warum läuft man sie also nicht gleich? Stattdessen frischt man sich 30 Kilometer auf, um dann von der Wahrheit zu kosten. Bei mir sitzt eine gehörige Portion Wahrheit direkt unter den Hinterbacken. In diese Region muß sie wohl hingehören, denn dort zieht es immer zuerst und auch am längsten. Wie kann man nur am Arsch verkrampfen? Eine in der Form irritierende aber doch plausible Frage für Dr. Antje Schäfer-Kühnemann.
Anschließend ergießt sich die Wahrheit über den ganzen Körper. So bei Kilometer 35, genau da, wo Dieter Baumann in ihrem Gleißen ertrank. Mathematische Fragen lassen sich dann nicht mehr lösen, man agiert rein experimentell. Geht noch ein Schritt oder war's das? Die Kraft kommt jetzt nicht aus den Muskeln, sondern aus einem etwa kastaniengroßen Willenskern irgendwo leicht hinten über der Nasenwurzel. Thomas ging neulich ein Wunderlicht auf, als er den Vorgang in rührend einfache Worte kleidete: Der Körper will nicht mehr, aber er muß noch. Man unternimmt das seinige, daß er das akzeptiert. Ein moralisch hoher Auftrag. Ethiker und Experimental-Physiologe zugleich mache ich mich an den nächsten Kilometer.
Die Sinne funktionieren noch. Ich würde sogar sagen bestens. Brechreiz, Schwindel, Krämpfe - what a feeling. Hermann Brood hat in seinem Leben fast alles probiert, das hier nicht. Jetzt steigen angeblich die Endorphine auf, sagt jedenfalls meine Friseuse, es steht so in der Zeitung. Kind wenn du wüßtest. Der Kopf ist puterrot, die rechte Hand blau vom vielen Kinderabklatschen, inzwischen treffe ich nicht mehr, alles eiert herum in großen bunten Blasen. Aus mit dem Fünferschnitt.
Dann eine Kurve - das Ziel. Ein Blick auf die Uhr bestätigt mir, daß ich für meine 3:35 nochmal anziehen muß, also machen wir das: LI - hinten oben fünf! Geht auch und drin; Punktlandung - um die Ecke gibt es Jever.
Bittermarks Ergebnisliste ist mein ganzer Stolz. Irgendwas wurmt mich aber an dem Platz vor mir. Die Zeit werde ich schon noch erreichen - die Platzierung nie. Wenn ich mich nicht irre, habe ich das schon am Laufstil prognostiziert.
Kritik wurde auch schon laut: Ich habe nicht alles gegeben, weil ich noch so munter bin. Das kann ja nur von einem kommen. Gut - werde ich beim nächsten Mal meine Spuren am Straßenrand hinterlassen. Aber wehe, dann heißt es, du stinkst aus dem Mund!
Geht es weiter? Aber logo. Horst, laß es dir gesagt sein: Nicht einen Meter hinterm Ziel habe ich gezweifelt. Schon als Achtjähriger wollte ich weiter pinkeln können, als die anderen. Später mußte ich zwar lernen, daß selbst Frauen weiter pinkeln als ich, aber Leben heißt ja, zu versuchen, seine Möglichkeiten zu realisieren. Ich denke, da ist noch was drin.
Pit Peters
PS: Have Mercy! Diesmal ist mir das Schreiben wirklich schwer gefallen. Es grenzt an Blasphemie, ein derartiges Erlebnis so zu zerfrotzeln. Es war traumhaft. Gefühle sind einfach unzeitgemäß, ihr wollt ja, daß alles durch den Kakao gezogen wird. Oder?