09.06.2006 Die 100 KM von Biel – ein Lauferlebnis der
besonderen Art - Franz-Josef Ingenmey
Seit etwa zwei Jahren war der Gedanke im Hinterkopf: Da gabs so einen verrückten Ultra-Lauf in Biel, wo man – so die einschlägige Meinung – als Läufer/in irgendwann mal hin muss. Der Gedanke wanderte aus dem Hinterkopf langsam nach vorne, ich machte mich schlau übers Internet (z.B. die Laufberichte unter www.steppenhahn.de), in Laufzeitschriften, bei Lauffreunden – und der Gedanke verdichtete sich immer mehr. Nach ersten Erfahrungen jenseits der Marathon-Strecke – z.B. der Schwäbische-Alb-Ultramarathon und die 50 km von Rodgau – wagte ich mich im letzten Jahr an den ‚langen Kanten‘ auf dem Rennsteig in Thüringen und bin dort so richtig auf den Geschmack gekommen. Dort wurde von alten Ultra-Hasen – die Szene zeichnet sich übrigens durch Überschaubarkeit und einen hohen Anteil an ‚Mehrfach- und Serientätern‘ aus – natürlich auch über den Hunderter von Biel erzählt: Etwa ein Drittel sagte, Biel sei leichter zu laufen als der Rennsteig (weil weniger Höhenmeter), etwa ein Drittel meinte, Biel sei schwerer (weil länger und Start in die Nacht), und das letzte Drittel meinte, die beiden Läufe seien eigentlich gar nicht miteinander zu vergleichen. Aber alle hatten bei Biel so einen komischen Glanz in den Augen. Und so kam der Gedanke ganz nach vorne: Im Jahr 2006 wage ich mich an Biel. Insbesondere die nicht-laufenden Freunde und Bekannten erklärten mich, als ich ihnen vom meinen Plänen erzählte, nunmehr für vollständig verrückt.
Ende 2005 bastelte ich mir einen für meine Verhältnisse systematischen Trainingsplan für die nächsten sechs Monate zurecht, der sich an dem Plan unter www.laufreport.de für eine Endzeit zwischen 11 und 13 Stunden orientierte. Den Trainingsplan fand ich deshalb besonders sympathisch, weil er auf umfangreiche Kilometer-Klopperei und überlange Trainingsläufe verzichtet, sondern vor allen Dingen auf die wöchentlichen langen Läufe (zwischen 25 und 35 km) setzt.
Anfang des Jahres begann also der Countdown für die ‚Nacht der Nächte‘. Seit Februar wusste ich bei der morgendlichen Zeitungslektüre, wieviel Tage bis Biel noch blieben, da die WAZ die letzten 100 Tage bis zur Fußball-WM herunterzählte, und das Eröffnungsspiel fand ja am selben Abend wie der Start zum Hunderter statt. 4 bis 5 Mal pro Woche raus zum Laufen, zwischen 60 und 80 Wochenkilometer und möglichst jedes Wochenende einen langen Lauf: Mit dem LT Bittermark der (verlängerte) Ruhrklippenlauf (der hat übrigens auf 25 km etwa so viel Höhenmeter hat wie Biel auf 100 km) und der Ruhrtallauf von Schwerte-Geisecke, mit dem LT Wischlingen der (verlängerte) 3-Schlösser-Lauf, den ein oder anderen Wettkampf zwischen 10 km und Halbmarathon, im April den Hamburg-Marathon (zügig, aber nicht ganz am Limit) und dazwischen viele Einheiten zwischen 10 und 20 km (im Hoeschpark vor der Haustür, im Grävingholz, am Dortmund-Ems-Kanal und im Dortmunder Süden). Was mir in Erinnerung geblieben ist: Etwa 90% der Läufe in langer Hose (der Winter hörte einfach nicht auf), außer minimalen Zipperlein wegen der erhöhten Kilometerumfänge keinerlei Verletzungen oder Infekte, und nicht zuletzt das Gefühl, für Biel gut vorbereitet zu sein. Ich freute mich auf den 9./10.Juni und hatte weiterhin Riesen-Respekt vor der großen Zahl 100. Bestärkt haben mich die begeisterten Erzählungen und Tipps der LTB’ler mit Biel-Erfahrung, vielen Dank an Horst, Margarete, Gerd, Gudrun, Klaus-Peter, Ralf und die anderen.
Am Donnerstag (8.Juni) gings dann los nach Biel – mit dem Auto, denn anschließend hatte ich noch eine Woche Erholung im Tessin mit Bergwandern und Seele-Baumeln-Lassen geplant -, Einquartieren im empfehlenswerten Hotel Drei Rosen im Stadtteil Bözingen, abends Abholen der Startnummer im Eisstadion, Pasta-Essen und Atmosphäre schnuppern. Nach gutem Schlaf und spätem Frühstück habe ich dann ein bißchen die Gegend erkundet (Altstadt, Seilbahn nach Magglingen, Bieler See), mittags noch mal Pasta beim Italiener, kleines Nickerchen, Laufsachen angezogen, Gurt mit leichter Jacke, Stirnlampe und ein paar weiteren Utensilien gepackt und das Fußball-WM-Eröffnungsspiel Deutschland-Costa Rica im Hotel-TV geguckt. Statt aufgeregter wurde ich eher entspannter, je näher der Start rückte. Zu Fuß bin ich dann um 20.30 Uhr in 15 Minuten zum Eisstadion gegangen. Auf der Zeltwiese entdeckte ich das Zelt von Ralf Ermler, da davor ein von Ralfs Frau Olga gefertigtes Schild mit LTB-Logo und der Aufschrift Hop-Hop stand: Großes Hallo, Ralf lief heute seinen fünften Hunderter in Biel. Mit einem Abstecher in die Curling-Halle zur Abgabe der Wechselkleidung und Wertsachen gings dann in der Abenddämmerung zum Start.
Tolle Atmosphäre, das übliche Vor-Start-Kribbeln, beim Blick auf die Menschen um einen herum Begeisterung in den Augen und das Gefühl, angesichts meiner Ausstattung mit kurzer Hose, kurzärmeligem Shirt und Gurt auch die richtige Wahl getroffen zu haben.
Um 22.00 Uhr der Startschuss – das Abenteuer konnte losgehen. Die ersten 5 km flach bis fallend durch die Bieler Innenstadt mit viel Publikum und mit angezogener Handbremse im 6:15er Schnitt, denn hier – so hatten mich viele gewarnt - kann man angesichts der tollen Stimmung am Streckenrand durch zu hohes Anfangstempo schon viel falsch machen. Ab Port dann die erste ordentliche Steigung, in meiner Preisklasse als zügige Wanderung zurückgelegt, wie die anderen um einen herum auch. Beim Herunterlaufen habe ich dann Heiner und Rudi aus dem hohen Norden getroffen, die ich vom Rennsteig und der Schwäbischen Alb her kenne: großes Hallo und ein Stück zusammen in die sternklare Nacht gelaufen. Nachdem die Ortschaft mit Straßenbeleuchtung aufhörte, spürte ich zum ersten Mal dieses fast meditative Gefühl, gemeinsam durch die ganze Nacht zu laufen, alle mit dem Ziel, irgendwann am nächsten Tag wieder in Biel anzukommen. Man kann den (guten) Gedanken freien Lauf lassen, alleine oder eine Zeit gemeinsam laufen und quatschen oder auch nicht, auf Geräusche, Temperaturen, Wind, Sterne achten – alles nehme ich viel intensiver wahr als am Tag. Und dazu das sich langsam einstellende Gefühl, seinen Rhythmus gefunden zu haben, es läuft rund! In Aarberg laufe ich dann über die legendäre Holzbrücke, in Lyss über den schönen Marktplatz – und überall laufen Riesenfeten, denn in dieser Nacht ist die Sperrstunde aufgehoben und alle feiern, trinken und feuern die Läufer begeistert an. Hinter Lyss stoßen dann die Begleitfahrräder hinzu (ist im Gegensatz zu anderen Läufen hier gestattet und wird von vielen genutzt), für mich waren die Radler mal eine willkommene Abwechslung (wenn man vor sich wie eine Perlenkette die Rücklichter sah), mal etwas nervig (wenn sie einem vor die Füße fuhren). Ich habe jedenfalls keine Fahrradbegleitung vermisst, alles was ich brauchte, hatte ich dabei oder gab es an den tollen Verpflegungsständen. Hinter Lyss wurde es ruhiger, die Dörfer mit ihren Feten weniger, und viele nebenan fluchten ein wenig über die langen Geraden mit ein paar Steigungen. Und mir gings weiter gut. Bei km 38 in Oberramsern große Verpflegungsstation mit Zwischenzeitnahme und gleichzeitig Ziel des Nachtmarathons, der eine halbe Stunde später gestartet war und zu Beginn eine kurze Extrarunde hatte. Die erste Etappe war geschafft, ich ließ mir Zeit beim Trinken (mein Favorit: Tee + Cola) und Essen (meine erste Wahl: Boullion mit Brot und Salzgebäck, das ein bißchen wie Hunde-Trockenfutter aussah), und ich besuchte eines der Dixi-Klos.
An die 18 km bis Kirchberg habe ich keine besonderen Erinnerungen: zwischendurch ‚Gehgelände‘ und der höchste Punkt der Strecke, irgendwann mal eher unaufällig die 50-Kilometer-Marke (die Hälfte geschafft!), riesige Frösche quakten an einem Dorfteich, kurz später wurde es ganz langsam heller, die Nacht war vorbei. Die letzten Kilometer war ich mit einem Läufer aus dem Schwäbischen zusammengelaufen, einer der vielen ‚Mehrfachtäter‘ in Biel und in Lünen-Brambauer groß geworden. In Kirchberg dann wieder großer Rummel, Zeitmatte, Verpflegung, Heiner wiedergetroffen (sein Kumpel Rudi hatte bei 50 aufgegeben), und auf Empfehlung des Schwaben habe ich mir an der Sani-Station die Waden massieren lassen: Ein toller Tipp! Danach ging es nämlich die knapp 10 km auf den Emmi-Damm – den legendären „Ho-Tschi-Minh-Pfad“ – und dort lief es mit lockeren Beinen noch mal so gut. Viele hatten von diesem Teilstück geschwärmt – und es stimmte: der Weg war anspruchsvoll mit Wurzeln und Steinen (aber z.T. auch schon neu ausgebaut und ‚entschärft‘), die Sonne ging auf, die Vögel zwitscherten, auf halber Strecke eine verrückte Verpflegungsstation unter einer niedrigen Brücke mit Hardrock-Musik, und ich war so fit drauf, dass ich viele überholte. Ab km 65 durften dann auch die Begleitfahrräder wieder mit auf die Strecke, und so ganz langsam kamen Gedanken in den Kopf, dass das letzte Drittel doch etwas mühsamer würde. Mittlerweile war die Sonne aufgegangen und es zeichnete sich ab, dass es ganz schön warm werden würde. Von Gerlafingen bis Bibern ging es langsam aber stetig hoch, so dass man sich nur schwer entscheiden konnte: Soll ich noch laufen oder gehe ich vorsichtshalber? Diese Frage stellte ich mir bis zum Ziel häufiger auch auf flachen Abschnitten – aber das war auch die einzige quälende Frage, an Aufgeben habe ich während des ganzen Laufes keine Sekunde gedacht. In Bibern bei Km 76 die letzte große Verpflegungsstation mit Zwischenzeitnahme – über Drei Viertel des Laufs geschafft! – und danach die stärkste Steigung der ganzen Strecke und das längste Gefälle hinunter nach Arch. ‚In Arch wird’s arg‘ oder ‚In Arch bist am Arsch‘ – diese Sprüche hatte ich im Kopf und es stimmte. Weiter ging es entlang der Aare, flach, aber staubig und ein bißchen langweilig, und richtig warm wurde es. In Büren bei km 90 viel getrunken, zur (mentalen) Stärkung ein mitgeführtes Squeezy-Gel und die letzten 10 km mit dem Gedanken an den Zieleinlauf unter die Hufe genommen. Auch die gingen vorbei, mit ein paar nicht eingeplanten Steigungen und nicht besonders schön entlang der Autobahn und Eisenbahn. Ab 95 wurden die Kilometer einzeln angezeigt (vorher nur in 5-km-Abschnitten), der Countdown lief. Bei 99 ging es durch eine hässliche Kies-Halde, aber man sah schon vorher das Eisstadion und ‚roch das Ziel‘. Den letzten Kilometer habe ich genossen, es waren wieder Leute an der Strecke, die einen beklatschten, eine letzte Biegung und noch 100 Meter: Dann hatte ich in 12 Stunden und 10 Minuten meinen ersten 100er geschafft! Der Zielsprecher begrüßte mich mit Namen und als ‚besonders locker einlaufenden Läufer‘, es gab eine Medaille, Getränke – und ein großes Glücksgefühl mit einem Mix aus Freude, Stolz, Gänsehaut und müden Knochen. Dafür hatte ich ein halbes Jahr trainiert, alles hatte geklappt, keine wirklichen Krisen unterwegs, Traumwetter – großartig!
Der Rest ist schnell erzählt: Flüssigkeitsausgleich im Ziel, umgezogen, Urkunde und Finisher-Shirt abgeholt, ins Hotel gefahren, spätes Frühstück, etwas die Beine langgemacht (für ein Nickerchen war ich noch zu aufgedreht), spätnachmittags wieder zum Eisstadion (bei einem Zielschluss von 20 Stunden kamen jetzt immer noch Läufer ins Ziel), die leckersten Pommes Mayo seit langem gegessen, mit Ralf (der fast eine Stunde vor mir finishte und auch schon wieder fit war) und Olga auf der Zeltwiese gegrillt und köstliches Brinkhoffs-Bier genossen, danach Besuch bei Rudi und Heiner (ebenfalls auf der Zeltwiese), abends noch beim Italiener gegessen und wohlschaffen müde ins Hotel-Bett. Am nächsten Tag bin ich dann noch für ein paar Tage ins Tessin gefahren zum Bergwandern und Erholen und zum ‚Verdauen‘ des 100ers – ich glaube, davon werde ich noch lange zehren. Außerdem ist es eine gute Grundlage für die nächsten Lauf-Pläne, darunter der fünfzigste Hunderter in Biel in zwei Jahren.
Franz-Josef Ingenmey – 01.07.2006